Psalm 126
Als der Herr unser Schicksal wandte
und uns freiließ,
da waren wir wie die Träumenden.
Da war unser Mund voll Lachen
und unsere Stimme voll Jubel.
Da sagte man unter den Völkern:
Der Herr hat Großes an ihnen getan.
Ja, Gott hat Großes an uns getan,
und wir waren fröhlich
über seine Freundlichkeit.
Wende nun, Herr, unser Schicksal aufs neue.
Du gibst den Bächen im Südland Wasser,
wenn sie trocken sind.
Gib nun auch uns Leben aus deiner Kraft.
Die mit Tränen säen,
werden mit Jubel ernten.
Man schreitet den Acker hin
und wieder zurück -
und weint und wirft den Samen aus.
Aber mit Jubel wird man heimkehren
und seine Garben hoch auf der Schulter tragen.
Übertragung von Jörg
Zink
Gedanken zum 126. Psalm, Vers 1:
Als Gott unser Schicksal wandte
und uns freiließ, da waren wir wie die Träumenden.
Wenn ein böses Schicksal sich wendet, dann
kann der Traum von einem befreiten Leben wahr werden.
Das Ende eines Krieges, das Ende einer Gefangenschaft, das Ende
von Hunger und Elend, das Ende von Vertreibung, Flucht und Vergewaltigung
- das ist eine Schicksalswende.
Für uns Deutsche liegt das gut fünfzig Jahre zurück.
Das Volk der Israeliten erlebte solch eine Schicksalswende im Jahr
538 v. Chr.. Nach knapp 50 Jahren im babylonischen Exil war ihre
Gefangenschaft zuende:
sie durften zurück in das gelobte Land. Da waren sie wie die
Träumenden. Es durfte geträumt werden von einem neuen
Zustand aller Bedingungen, die einem das Leben wert machen.
Träumen von einem Neuanfang. Träumen von einem Wiederaufbau
und einem eigenen Zuhause. Träumen von einer selbstbestimmten
Zeit. Träumen von einem Leben in der gewohnten Weise, nach
den eigenen Sitten, an den alt vertrauten Orten. Träumen von
einer freien Ausübung der Religion. Träumen von einer
Gemeinschaft, der das Wohl des Einzelnen und das Heil des Ganzen
am Herzen liegt.
In diesem Träumen fließen Gegenwärtiges und Zukünftiges
ineinander.
"Sie können entlassen werden. Am Wochenende sind Sie wieder
zuhause!" Kaum daß ich diesen Satz hörte, spürte
ich, wie der Traum des vom Krankenhaus befreiten Lebens nun mein
gegenwärtiges Denken und Fühlen durchdrang und beherrschte.
Als Gott unser Schicksal wandte
und uns freiließ, da waren wir wie die Träumenden.
Daß Gott es in der Hand hat, unser Schicksal
zu wenden, ist die Provokation des jüdisch-christlichen Glaubens.
Gott will konkret Schicksal wenden für den Einzelnen, für
die Gemeinschaft, aber auch für die Menschheit und die Schöpfung,
weil er uns den Traum von einem befreiten Leben bewahren will.
Gedanken zum 126. Psalm, Vers 2:
Als Gott unser Schicksal wandte
und uns freiließ, da war unser Mund voll Lachen und unsere
Stimme voll Jubel.
Ein Mund voller Lachen und eine Stimme voller Jubel.
Bilder eines prallen Lebens. Da macht sich ein befreites, glückliches
Herz Luft. Wirft alles aus sich heraus, was in den Zwängen
der Angst unterdrückt werden mußte.
Jetzt ist Schluß mit dem verbitterten Schweigen! Jetzt ist
Schluß mit dem Verkneifen von Gefühlen! Jetzt ist Schluß
mit der leisen Vorsicht! Jetzt muß all das raus, damit die
Freude ihren Platz bekommt!
Eine Schicksalswende ist so ein Augenblick. Zuerst das Staunen,
daß nun alles anders wird; alles anders werden kann - dann
das Lachen, der Jubel.
Die Fernsehbilder von der Wende am Brandenburger Tor
zeugen davon:
zuerst das ungläubige Staunen, dann ein unbändiger Aufschrei:
lachen, jubeln, tanzen!
Im Jahre 538 vor Christus erlebten die Israeliten solch eine Wende.
Der Perserkönig Kyrus verfügt, daß die Juden aus
dem Babylonischen Exil in das gelobte Land zurückkehren dürfen:
Die Angst, auf immer verraten und verloren zu sein, ist wie weggeblasen.
Das Gefängnis, in dem eigenes Leben keine Zukunft mehr hatte,
öffnet seine Tore.
Wie ein Wunder erscheinen einem solche Schicksalswendungen,
auch im eigenen Leben.
"Jubilum" meint im Lateinischen das fröhliche Jodeln
der Hirten. Ausdruck unbeschwerter Lebensfreude.
Die Menge der himmlischen Heerscharen - so wird uns in der Weihnachtsgeschichte
berichtet - stimmt bei der Geburt Jesu den Jubel Gottes an. Ausdruck
tief empfundener Freude darüber, daß Gott mit Jesus die
Wende zum Leben begonnen hat.
Gedanken zum 126. Psalm, Vers 3:
Als Gott unser Schicksal wandte
und uns freiließ, da sagte man unter den Völkern: Gott
hat Großes an ihnen getan. Ja, Gott hat Großes an uns
getan, und wir waren fröhlich über seine Freundlichkeit.
Das war ein hartes Schicksal für Juda und
Jerusalem: im Jahr 587 vor Christus erobert Nebukadnezar die heilige
Stadt, zerstört den Tempel, verschleppt das Volk ins Exil nach
Babylon.
Verbittert, enttäuscht und hilflos muß das erwählte
Volk Gottes zur Kenntnis nehmen, daß es von Gott und der Welt
verlassen ist. Die einen kämpfen ums Überleben, andere
beginnen nachzudenken und sich zu fragen:
Wie konnte das passieren? Was haben wir falsch gemacht? Was an unserer
Glaubens- und Lebenseinstellung stimmte nicht, daß es zu solch
einer Katastrophe kommen mußte?
Buße tun, heißt: sich hinterfragen - seine Einstellungen
und Entscheidungen, seine Werte und Ziele.
Buße tun, heißt dann auch: sich ändern. Kehrtwendung,
die Richtung stimmt nicht.
Im babylonischen Exil vollzieht das gedemütigte Volk Gottes
diese Buße und orientiert sich in seiner Glaubenshaltung wieder
an den Grundwerten, die sich beim Auszug aus dem Knechtshaus Ägypten
und in der Wüstenwanderung bewährt hatten. Verdichtet
sind sie in den bekannten zehn Geboten.
Das hilft ihnen, 50 Jahre im Exil zu überleben. Eine lange
und harte Bewährungszeit.
Und als dann endlich die geschichtliche Wende eintritt, da sagt
man unter den Völkern: Gott hat Großes an ihnen getan.
Und die, die die Katastrophe überlebt hatten, die in sich gegangen
waren und sich neu an den ewigen Grundwerten Gottes orientiert hatten,
antworten dankbar:
Ja, Gott hat Großes an uns getan, und wir sind fröhlich
über seine Freundlichkeit.
Gedanken zum 126.Psalm, Vers 4:
Wende nun, Gott, unser Schicksal
aufs neue.
In ausweglosen, hoffnungsarmen Situationen hört
man schon mal den Seufzer: Da hilft nur noch beten ...
Beten deshalb, weil - wenn, dann nur noch Gott das Blatt zum Guten
wenden kann: Wende du, Gott, das Schicksal dieses Menschen oder
dieser Menschen, das so unerbittlich einem bösen Ende zutreibt.
Das Stoßgebet in der Mitte des 126. Psalms klingt etwas, aber
damit doch entscheidend anders:
Wende nun, Gott, unser Schicksal aufs
neue.
Dieses Stoßgebet bezieht sich auf eine alte Erfahrung mit
der Wendemacht Gottes. Aufs neue soll sie sich nun offenbaren.
Ganz konkret: Der Erlaß des Perserkönigs Kyrus beendet
im Jahr 538 vor Christus das babylonische Exil der Juden. Aber erst
23 Jahre nach dieser großen Wende kann der Tempel, die Lebensmitte
des Volkes, wieder geweiht und damit in etwa der alte Lebensstandard
erreicht werden.
Die wunderbare Befreiung - das war das eine. Aber das andere ist
die mögliche und praktikable und eher bescheidene Verwirklichung
der großen Hoffnung auf ein neues
Leben nach der Wende. Der Prophet Jesaja schreibt dazu damals
ganz nüchtern: Wir harren auf Licht, und siehe da: Finsternis!
Für Deutschland liegt die Wende zwölf Jahre zurück.
Viele Erwartungen haben sich nicht, oder noch nicht erfüllt.
Die Realität hat eben ihre eigene Logik und nimmt nicht Rücksicht
auf Träume oder gar Wunschträume.
Die Wende zum neuen Zustand aller Dinge ereignet
sich in einem Prozeß:
- Zurückschauen auf das Erfahrene,
- Bitten um Kraft, Geduld und gute Ideen für
die widerspenstige Realität und
- Festhalten an der Hoffnung auf ein sich erfüllendes
Leben.
Gedanken zum 126. Psalm, Vers 4:
Du gibst den Bächen im Südland
Wasser, wenn sie trocken sind. Gib nun auch uns Leben aus deiner
Kraft.
In der Regenzeit füllen sich die Wüstenwadis,
diese öd und trocken daliegenden Flußtäler der Wüste
Negev, wieder mit Wasser. Dann sprießt Leben auf - in ungeahnter
Fülle. Die Wüste lebt; sie hat alle Kraft und allen Samen
in sich.
Menschen mit Wüstenerfahrung beschäftigen sich deshalb
durch die Jahrhunderte hindurch mit der Aufgabe, der Wüste
das lebensnotwendige Wasser zu geben.
Es fällt nicht schwer, diese Wüstenerfahrung
auf unser menschliches Leben zu übertragen. Nicht nur unser
Körper trocknet aus, wenn ihm nicht ausreichend Wasser zugeführt
wird. Auch unsere Seele verdurstet und wird zur öden Wüste,
wenn sie nicht das bekommt, was sie aufleben läßt.
Im 126. Psalm geht es darum, daß die Aufbruchsstimmung und
der Schwung, den das amtliche Ende des Exils in Babylon bei den
Juden auslöste, mit der Zeit versiegen.
Die anfängliche Motivation war groß, in der alten Heimat
alles besser und solide aufzubauen. Aber die harten Realitäten
im Lande und die ernüchternd-langsamen Fortschritte und die
begrenzten Kräfte lassen die Motivation ermatten. Verzagte
Resignation macht sich breit. Der heilsame Lebensimpuls, den die
Erlaubnis zur Rückkehr auslöste, ist wie zerronnen.
"Wie du den Bächen in der Wüste Negev Wasser gibst,
wenn sie trocken sind, so gib auch uns Leben aus deiner Kraft."
Die erschöpften Quellen werden durch Regen von oben her neu
aufsprudeln und Leben in der Wüste ermöglichen: "Von
oben her", von Gott her auf neue Lebendigkeit hoffen.
- Wenn die Lebendigkeit des Lebens versiegt,
- wenn die Seele verdurstet,
- wenn das Leben zur öden Wüste wird,
dann tut es gut, sich auf diese
Quelle des Lebens zu besinnen.
Und Gott läßt sich bitten, wenn das Leben zu verschmachten
droht.
Gedanken zum 126. Psalm, Vers 5 + 6:
Man schreitet den
Acker hin und wieder zurück - und weint und wirft den Samen
aus. Aber mit Jubel wird man heimkehren und seine Garben hoch auf
der Schulter tragen.
Morgen ist Totensonntag.
Wir gedenken derer, die vor uns das Leben durchschritten haben.
Der Tod ist das letzte Wegstück, das die Toten noch von Gott
trennt.
Wir, die wir leben, müssen das Leben und
den Tod durchqueren. Wir schreiten den Acker hin und wieder zurück
und weinen und werfen den Samen aus.
Dieses bäuerliche Bild hebt unser unterschiedliches
Schreiten durch das Leben auf eine gemeinsame Ebene:
Leben ist ein Ackern um Ertrag und Erfolg, Hoffen auf aufgehende
Saat, Freude am Gelingen und Weinen um das, was wir verlieren, mehr
noch: um die, die wir verlieren.
Das Weinen wird nicht verschwiegen. Es gehört
zum Leben.
Tränen gehören zum Sprechen der Seele: die Tränen
der Freude wie die bitteren Tränen der Ohnmacht. Die Tränen
sind Ausdruck für unsere Nähe zum Leben. Wer weint, glaubt
und hofft, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan
ist. Leben ist mehr - dieses Gefühl birgt jede Träne in
sich.
Darum sind unsere Tränen so
kostbar, daß "Gott sie in seinen Krug sammelt und ohne
Zweifel, er zählt sie" - so das Bekenntnis eines anderen
Psalmdichters. Und an dem Tag jenseits von Leben und Tod "wird
Gott abwischen alle Tränen von unsern Augen"² - so
schreibt der Seher Johannes.
Dem bäuerlichen Bild vom Schreiten über den Lebensacker
ist nicht zu entnehmen, daß Leben jemals im Reich Gottes zur
Erfüllung kommen könnte. Es bleibt auf die von uns erlebte
Welt bezogen.
Erst mit dem Advent Gottes, auf den wir zugehen, verbindet sich
die Hoffnung, daß sich hinter den Landschaften des Lebens
und des Todes Erlösung verbirgt und wir den Zustand der Unschuld
wiederfinden.
1Psalm 56,9
² Offenbarung d. Joh. 21,4 |