Ich preise dich, Gott; denn
du hast mich aus der Tiefe gezogen und lässest meine Feinde
sich nicht über mich freuen. Mein Gott, als ich schrie zu dir,
da machtest du mich gesund. Gott, du hast mich von den Toten heraufgeholt;
du hast mich am Leben erhalten.
Dieser Lobpreis Gottes, mit dem der 30. Psalm beginnt,
kommt aus tiefstem Herzen. Er bricht aus dem Mund eines Menschen,
der sein schon verloren geglaubtes Leben noch einmal neu geschenkt
bekommen hat.
Lebensbedrohlich erkrankt zog es ihn hinunter in die tiefen Abgründe
der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er fühlte sich schon
am Rand des Grabes, am Ende seines Lebens.
Mit dem Tod ist alles aus. Mein Ichsein ist dann verdammt zu einem
Schattendasein in der "Scheol", wie auf Hebräisch
die Nicht-Welt der Toten heißt.
Keine Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode tröstet und
hilft ihm über den Schrecken: "Ich bin tödlich erkrankt!"
Er sieht und spürt nur noch: keine Chance mehr! Vorbei die
Zeit, in der mein Leben dankbare Antwort sein kann und darf auf
den, der mir das Leben schenkte.
Ich stutze bei so viel Diesseitigkeit.
Ich weiß: Die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben wird oft
missbraucht als billige Vertröstung aus dem unerträglichen
Leben im Diesseits. Aber dieses Vertrösten aufs Jenseits nimmt
dem Leben hier und jetzt den Ernst einer von Gott einmalig gewährten
Chance.
So sieht der fromme Psalmbeter das. Für ihn geht es um sein
jetziges Leben. Nur als Lebender kann man Gott mit Herz, Mund und
Händen loben - als Toter - wie soll das gehen?
Der Tod trennt uns von allem Vitalen am Menschsein. Dieses Erschrecken
sitzt tief in uns, auch wenn es uns nicht immer bewusst ist.
Der Psalmbeter spürt im Tod zugleich die letztgültige
Trennung von Gott. Als Toter bin ich von der Welt und von Gott verlassen!
Du hast mich aus der Tiefe gezogen
- Gott sei Dank, die Macht des Todes hat mich
nicht besiegt! Vor diesem tiefen Fall hat mich Gott bewahrt! Gott
will den Tod nicht, er sucht lebendige Menschen als sein Gegenüber.
Das ermuntert mich, mein Menschsein als Geschenk Gottes zu entfalten
- hier und jetzt. Lobsinget Gott, ihr seine
Heiligen, und preiset seinen heiligen Namen!
Denn sein Zorn währet einen Augenblick und lebenslang seine
Gnade.
Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude.
So heißt es im 5. und 6. Vers des 30. Psalms.
Wie abgelaufene Zeiten empfunden werden, ist zutiefst
mit dem verknüpft, was wir in dieser Zeit erlebt haben.
Ein Abend kann lang sein. Und eine Woche vergeht wie im Fluge.
Gehen Eheleute oder Liebende im Zorn auseinander, wirkt die Zeit,
bis es zur Aussöhnung kommt, quälend lang. Danach pulsiert
das Leben wieder im gleichmäßigen Rhythmus.
Wenn auf die Augenblicke, wo man einander zornig war, wieder freundliche
Zeiten folgen, schrumpfen bzw. wachsen die Zeiten. Nun, wo alles
wieder gut ist und wir uns wieder vertragen, erscheint die vergangene
Zeit des Zorns als Augenblick und die sich öffnende zukünftige
Zeit des Geneigtseins als lebenslang.
In der Beziehung zu Gott geht es auch um Zeiten
der Trennung im Zorn und um Zeiten der Nähe im gegenseitigen
Einvernehmen.
Für den Psalmbeter ist der alles bestimmende Lebensinhalt,
seine irdische Existenz ganz nah bei Gott zu wissen.
Leibliches Elend, wie Krankheit oder Armut, bedeuten für ihn,
dass Gott sich dem Menschen entzogen hat. In solch einem Lebensalltag
ist Gott nicht mehr zu erkennen. Das ist die Zeit
des Zorns Gottes.
Ist die leibliche Unversehrtheit wieder hergestellt,
ist Gott dem Menschen wieder nah. Das ist dann die Zeit
der Gnade Gottes.
Beide Zeiten hat der Psalmdichter durchlebt:
Der Abend, die Nacht des Weinens, der Verzweiflung, der Gottverlorenheit
- diese Zeit ist für ihn zu etwas Gestrigem geworden.
Der Morgen, die neue Zeit ist erfüllt von der alles überstrahlenden
Freude:Gott hält sich nicht verborgen! Er ist wieder da in
meinem Leben!
So gerinnt die Zeit des Zorns zu einem Augenblick und die Zeit der
Gnade weitet sich zu einer lebenslangen Freude. Ich sprach, als es mir gut
ging: Ich werde nimmermehr wanken. Denn, Gott, durch dein Wohlgefallen
hattest du mich auf einen hohen Felsen gestellt. Aber als du dein
Antlitz verbargest, erschrak ich.
So lauten der 7. und 8. Vers des 30. Psalms.
Wenn es einem Menschen gut geht, überschätzt
er leichtmal seine Lebenslage und überreizt
seine tatsächlichen Möglichkeiten. "Hochmut kommt
vor dem Fall", gibt ein Sprichwort uns zu bedenken.
Nachdenkliche und auch fromme Menschen stehen einer sorglosen Selbstsicherheit
kritisch gegenüber. In vielen Religionen durchzieht diese Kritik
eine Warnung: Der gar zu Selbstsichere möge sich hüten
vor der strafenden Rache der neidisch eifersüchtigen Gottheit.
Jede Grundlage menschlicher Sicherheit ist, das wissen wir, begrenzt
und auch vorläufig.
Die erschreckende Erkenntnis, tödlich erkrankt
zu sein, stößt den Verfasser des 30. Psalms aus seiner
unbekümmerten Selbstsicherheit. Jetzt fragt er sich: Worauf
beruht die Sicherheit meines Leben? Was war falsch und trügerisch
an den Fundamenten meines Lebensentwurfes und meiner Lebensgestaltung?
Herausgerissen aus dem sorglosen Glück hinterfragt er auch
seine Frömmigkeit. Denn als es ihm gut ging, hat er Gott in
seine selbstsichere Weltsicht eingebaut: "Denn,
Gott, durch dein
Wohlgefallen hattest du
mich auf einen hohen Felsen gestellt." Wie
Gott wirklich ist, blieb ihm verborgen bis zu seinem Sturz aus dem
Hochmut: "Als du, Gott, dein
Antlitz verbargest, erschrak ich".
Der Mensch, dem es gut geht, pfeift unbekümmert
das Lied vom "lieben Gott".
Widerfahrenes Unglück, erlittene Krankheit und Todesnot dagegen
drängen zum Klagen: Wo bist du, Gott? Warum lässt Gott
das zu? Gott ist ungerecht! Er ist nicht da, wenn man ihn braucht!
Das drohende Nichts bringt zur Besinnung. Leben wird neu überdacht.
Überheblicher Stolz weicht einer weisen Lebenshaltung:
Dankbar sein - Gott und dem Leben gegenüber - das wird das
neue Lebensgefühl. Zu dir, Gott, rief ich, und
zum ihm flehte ich: Was nützt dir mein Blut, wenn ich zur Grube
fahre? Wird dir auch der Staub danken und deine Treue verkündigen?
Gott, höre und sei mir gnädig! Gott, sei mein Helfer!
Nicht nur die Art, wie der Dichter des 30. Psalms
hier mit Gott redet, lässt uns stutzen, mehr noch, meine ich,
diese ungewöhnliche, aber doch einfache Lebenssicht:
Mein Lebendigsein hat für Gott einen Nutzen. Wenn ich sterbe,
tot bin und in die Grube fahre, verlierst du, Gott, einen Menschen,
der dich preisen könnte.
Der Sinn menschlicher Existenz ist es, Gott zu loben. Dazu braucht
Gott aber lebendige Menschen und nicht tote!
Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens finden wir
hier eine schlichte Antwort:
Leben hat den Sinn, sich auf das Gegenüber Gott zu beziehen.
Wir kennen das Gegenüber zu einem Menschen. Hat der Mensch
ein Gegenüber, beginnt er, sich ihm gegenüber zu verhalten:
Mit diesem Gegenüber zu reden, zu handeln, zu planen, zu entscheiden.
Mit dem Gegenüber zu weinen und zu lachen, ausgelassen zu sein
und zu streiten.
Dem andern gegenüber seine Ängste auszusprechen wie auch
seine Freude mitzuteilen.
Mit ihm zu zanken und wieder Frieden zu schließen, zu schweigen
und auf das lösende Wort zu hoffen.
Menschliche Existenz ist auf dieses dialogische Gegenüber angewiesen.
Fällt dieser Dialog aus - etwa im Gegenüber zur Frau,
zum Mann, zur Freundin oder zum Nachbarn - leiden wir. Läuft
dieser Dialog gut, blüht das Leben auf.
Mit Gott ist das nicht anders, meint der Verfasser des 30. Psalms.
Darum hält er seinem Gegenüber "Gott" den schlichten
und doch so überzeugenden Einwand vor:
Soll mein Leben da enden, wo ich doch gerade begonnen habe zu begreifen,
wozu ich mein Leben habe? Jetzt erst weiß ich doch, dass du,
Gott, nicht einfach nur für den Garanten eines glücklichen
und sicheren Leben gehalten werden willst. Du willst mir ein lebendiges
Gegenüber sein, mit dem ich mein Leben sinnvoll gestalten kann.
Genau wie mit einem menschlichen Gegenüber.
Also: Lass mich bitte leben und hilf mir, dialogisch zu leben.
1 Verse 9+10 Du hast mir meine Klage verwandelt
in einen Reigen, du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und
mich mit Freude gegürtet, dass ich dir lobsinge und nicht stille
werde. Herr, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.
So dankt der Dichter zum Schluss des 30. Psalms Gott.
Der Reigentanz ist höchster Ausdruck der
Festfreude. Jedenfalls in Israel, auch heute noch: mit über
den Schultern verschränkten Armen zum rhythmischen Gesang oder
mitreißender
Klezmermusik wächst aus dem Grund glücklich befreiter
Seelen ein synchroner Wechselschritttanz im Kreis, sich steigernd
bis zur Ausgelassenheit.
Bei einer überraschenden Begegnung wirbelt die Mutter ihr glücklich
wiedergefundenes Kind im Kreis herum, der Mann seine Geliebte nach
langer Trennung, ja gänzlich Fremde sind sich nach dem Mauerfall
in die Arme gefallen und begannen im Kreis zu hüpfen und zu
tanzen.
Eine totale Umkehrung aller bestehenden Verhältnisse
erfährt ein Mensch, wenn er von einer tödlichen Bedrohung
seines Lebens befreit wird: Jetzt wird der Sack der Trauer ausgezogen
und sich mit Freude gegürtet. Man kann es dem Menschen ansehen,
wie er jetzt wieder auf sein Äußeres achtet, die Farben
der Freude für seine Kleidung wählt und beschwingten Schrittes
in den Tag tanzt. All dieses ist äußerer Ausdruck für
den inneren Wandel: Das Leben ist mir nochmal neu geschenkt!
Ohne das "DU" in diesen letzten Versen
des 30. Psalms ist dieser Taumel der Lebensfreude undenkbar: Du,
Gott, hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen, du
hast mir den Sack der Trauer ausgezogen, du
hast mich mit Freude gegürtet, dir
will ich lobsingen, dir
will ich danken!
Zwischen dem "DU" Gottes und dem "ICH" des eigenen
Lebens öffnet sich der Raum für die Höhen und Tiefen
des Lebens. In diesem Raum wird ausgesprochen
- ob ich zuversichtlich bin oder mit meinem
Schicksal hadere,
- ob ich beglückt bin von einem Tag
oder mich graule vor der beklemmenden Leere der Nacht.
Klagen und Danken erfüllen diesen
Raum.
Mein Leben teile ich mit Gott - darüber mag ich nicht stille
werden. Ein Psalm Davids, ein Lied
zur Einweihung des Tempels.
Diese Überschrift hat die Tradition dem
30. Psalm gegeben.
Das verwundert. Was hat das Klage- und Danklied eines
von tödlicher Krankheit erretteten Menschen mit dem Tempel
in Jerusalem zu tun?
Der Tempel in Jerusalem war und ist zu aller Zeit der Glaubens-
und Lebensmittelpunkt des jüdischen Volkes. Die Zerstörung
dieses Tempels nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 587 vor Christus
entzieht dem Volk Israel das Zentrum der Glaubensfrömmigkeit:
Hier im Allerheiligsten nahm Gott seinen Sitz, konnte um Hilfe angefleht
werden, ließ durch den Hohenpriester seine Antwort dem Beter
verkünden.
Tempellosigkeit bedeutete für das ganze Gottesvolk Leblosigkeit.
Dem Gottesglauben war mit der Zerstörung des Tempels die Quelle
des Lebens entrissen. Die Klagelieder an den Flüssen Babylons
bezeugen es, in welche Todesnöte sich das Volk Israel - nach
der Zerstörung des Tempels - gestürzt sah.
Das Edikt des perischen Kaisers Kyros im Jahr 538 vor Christus erteilt
den Juden die Erlaubnis, mit dem Wiederaufbau des Tempels zu beginnen.
Damit wird das fromme Volk aus dem heillosen Zustand der Tempellosigkeit
erlöst. Das erlebt dieses Volk wie eine Errettung aus der Todessphäre.
Als im Jahr 169 vor Christus der römische Feldherr Antiochus
den Jerusalemer Tempel beraubt und entweiht, da erleben die Juden
die Reinigung und Wiederweihe ihres Tempels wiederum wie ein Entrinnen
aus der Todessphäre.
Jetzt entsinnen sie sich der Worte des 30. Psalms, dieses Dankgebetes
eines aus Todesnot erretteten Menschen. Was einst von einem aus
Todesangst befreiten Menschen gedichtet worden war, konnte nun auf
die Gemeinschaft und den Kult übertragen werden.
Beide Anlässe geben einen Grund zu danken: Die Wiedereinweihung
des Tempels nach seiner Entweihung durch die Römer erfüllte
die Juden mit Dank. Ebenso ist ein Mensch dankbar, wenn er erlebt:
Mein Leben ist mir nochmal neu geschenkt worden.
Das Danken ist in beiden Gegebenheiten die Antwort auf die Erfahrung
einer wundersamen Errettung aus einer tödlichen Bedrohung.
Daher trägt der 30. Psalm die Überschrift: Ein Lied zur
Einweihung des Tempels. |